Tag der Eule: Ein sizilianischer Kriminalroman
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Am hellichten Tag wird auf der Piazza ein Bauunternehmer umgebracht. Gerade als er in den schon anfahrenden Bus springen will, fallen die Schüsse. Alle steigen aus, eine Menge bildet sich um den Toten. Als die Carabinieri die Schaulustigen auffordern, die Piazza zu verlassen, und die Fahrgäste, in den Bus zurückzukehren, um sie zu vernehmen, sind alle weg - und der Bus bleibt leer. Fahrer und Schaffner haben nichts gesehen und können sich nicht einmal erinnern, wer im Bus saß. Überhaupt hat niemand etwas gesehen.
Capitano Bellodi, man merkt es gleich, ist ein Herr aus dem Norden, denn er ist so ungewöhnlich höflich und versteht gar nichts. Aber ärgerlicherweise lässt er nicht locker und fängt an, der Sache auf den Grund zu gehen …
Zu einem Zeitpunkt, als die Öffentlichkeit die Existenz der Mafia noch leugnet, beschreibt Sciascia in diesem 1961 erschienenen Roman erstmals die Strukturen der Mafia und charakterisiert meisterlich ihre Gestalten.
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Jedem das Seine: Ein sizilianischer Kriminalroman Valutazione: 4 su 5 stelle4/5Der Zusammenhang: Ein sizilianischer Kriminalroman Valutazione: 0 su 5 stelle0 valutazioni
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Tag der Eule - Leonardo Sciascia
VI.
Der Autobus sollte gerade losfahren. Er brummte und ratterte; einige Male heulte der Motor auf. Schweigend lag der Platz im Grau der Morgendämmerung. Nebelschwaden hingen um die Türme der Pfarrkirche. Nur der Autobus brummte. Dazu, flehend und spöttisch, die Stimme des Ölkuchenverkäufers: »Ölkuchen, heiße Ölkuchen.« Der Schaffner schloß die Wagentür. Mit einem scheppernden Geräusch setzte der Autobus sich in Bewegung. Der letzte Blick des Schaffners fiel auf den dunkelgekleideten Mann, der herbeirannte. »Einen Augenblick«, sagte der Schaffner zu dem Fahrer und öffnete noch während des Fahrens die Wagentür. Da knallten zwei Schüsse. Der Dunkelgekleidete, der gerade auf das Trittbrett springen wollte, schwebte einen Augenblick lang in der Luft, als ziehe eine unsichtbare Hand ihn empor. Die Mappe entglitt seiner Hand. Langsam sank er über ihr zusammen.
Der Schaffner fluchte. Sein Gesicht war schwefelfarben geworden. Er zitterte. Der Ölkuchenverkäufer, der drei Meter von dem Gestürzten entfernt stand, zog sich im Krebsgang Richtung Kirchentür zurück. Im Autobus rührte sich niemand. Der Fahrer war wie versteinert, die Rechte an der Handbremse, die Linke auf dem Lenkrad. Der Schaffner betrachtete alle diese Gesichter, die blicklos waren wie die Gesichter von Blinden. »Den haben sie umgebracht«, sagte er, setzte seine Mütze ab und begann sich heftig mit der Hand durch die Haare zu fahren. Dabei fluchte er noch immer.
»Die Carabinieri«, sagte der Fahrer, »wir müssen die Carabinieri holen.«
Er stand auf und öffnete die Wagentür. »Ich gehe«, sagte er zum Schaffner.
Der Schaffner schaute auf den Toten und dann auf die Fahrgäste. Im Autobus saßen auch Frauen, alte Frauen, die jeden Morgen schwere, weiße Leinensäcke bei sich hatten und Körbe voller Eier. Ihren Röcken entströmte der Geruch von Steinklee, Mist und verbranntem Holz. Gewöhnlich schimpften und zeterten sie. Jetzt waren sie stumm. Jahrhundertealtes Schweigen schien auf ihren Gesichtern eingegraben.
»Wer ist das?« fragte der Schaffner und deutete auf den Toten.
Niemand antwortete. Der Schaffner fluchte. Er war bei den Fahrgästen dieser Buslinie für sein Fluchen bekannt. Er fluchte mit Hingabe. Man hatte ihm schon mit Entlassung gedroht. Denn mit seiner üblen Angewohnheit, dauernd zu fluchen, ging er soweit, daß er keine Rücksicht auf die Anwesenheit von Geistlichen und Nonnen im Autobus nahm. Er stammte aus der Provinz Syrakus und hatte mit Mordfällen nur wenig Erfahrung. Eine dumme Provinz, die Provinz Syrakus. Deshalb fluchte er jetzt noch ärger als sonst.
Die Carabinieri kamen, der Maresciallo* mit finsterem Gesicht, unrasiert und unausgeschlafen. Wie eine Alarmglocke schreckte ihr Erscheinen die Fahrgäste aus ihrem dumpfen Brüten auf. Sie begannen hinter dem Schaffner durch die andere Tür auszusteigen, die der Fahrer offengelassen hatte. Scheinbar gleichgültig, als schauten sie nur zurück, um die Kirchtürme aus dem richtigen Abstand zu bewundern, strebten sie dem Rand des Platzes zu und bogen, nach einem letzten Blick zurück, in die Gassen ein. Maresciallo und Carabinieri bemerkten nichts von dieser Flucht in alle Himmelsrichtungen. Den Toten umringten jetzt rund fünfzig Personen, Arbeiter aus einer Lehrwerkstatt, die gar nicht glauben konnten, einen so ergiebigen Gesprächsgegenstand für ihre achtstündige Muße gefunden zu haben. Der Maresciallo befahl den Carabinieri, den Platz räumen zu lassen und die Fahrgäste aufzufordern, wieder in den Autobus zu steigen. Und die Carabinieri drängten die Neugierigen in die Straßen zurück, die in den Platz mündeten, und forderten die Fahrgäste auf, sich wieder in den Bus zu setzen. Als sich der Platz geleert hatte, war auch der Autobus leer. Nur der Fahrer und der Schaffner blieben übrig.
»Wie?« fragte der Maresciallo den Fahrer. »Wollte denn heute niemand mitfahren?«
»Ein paar Leute schon«, sagte der Fahrer mit zerstreuter Miene.
»Ein paar Leute«, sagte der Maresciallo, »das hieße fünf oder sechs. Ich habe diesen Autobus noch nie abfahren sehen, ohne daß nicht der letzte Platz besetzt gewesen wäre.«
»Ich weiß nicht«, sagte der Fahrer. Er dachte angestrengt nach. »Ich weiß nicht. Ein paar Leute, meine ich, sozusagen. Sicher waren es nicht nur fünf oder sechs. Es waren mehr. Vielleicht war der Autobus voll … Ich schaue nie nach den Leuten, die da sind. Ich setze mich auf meinen Platz, und los geht’s … Ich schaue nur auf die Straße. Dafür werde ich bezahlt.«
Der Maresciallo fuhr sich mit gespreizten Fingern nervös übers Gesicht. »Ich verstehe«, sagte er. »Du schaust nur auf die Straße. Aber du«, und er wandte sich wütend an den Schaffner, »du reißt die Fahrscheine ab, kassierst das Geld, gibst heraus. Du zählst die Leute und schaust ihnen ins Gesicht … Und wenn du nicht willst, daß ich deiner Erinnerung auf der Wache nachhelfe, mußt du mir sofort sagen, wer im Autobus war. Wenigstens zehn Namen mußt du mir nennen … Seit drei Jahren tust du auf dieser Linie Dienst. Seit drei Jahren sehe ich dich jeden Abend im Café Italia. Du kennst das Dorf besser als ich …«
»Besser als Sie kann niemand das Dorf kennen«, sagte der Schaffner lächelnd, als wolle er ein Kompliment abwehren.
»Na schön«, sagte der Maresciallo grinsend, »ich am besten und dann du. Schon recht … Aber ich war nicht im Autobus, sonst würde ich mich an jeden einzelnen Fahrgast erinnern. Also ist das deine Sache. Wenigstens zehn mußt du mir nennen.«
»Ich kann mich nicht erinnern«, sagte der Schaffner. »Bei meiner Mutter selig, ich kann mich nicht erinnern. Im Augenblick kann ich mich an nichts erinnern. Es ist, als träumte ich.«
»Ich werd dich schon aufwecken, aufwecken werd ich dich«, brauste der Maresciallo auf. »Mit ein paar Jahren Gefängnis weck ich dich auf …« Er unterbrach sich, um dem Amtsrichter entgegenzugehen. Und während er ihm mitteilte, um wen es sich bei dem Toten handelte, und ihm von der Flucht der Fahrgäste berichtete, kam es ihm beim Anblick des Autobusses so vor, als stimme irgend etwas nicht, als fehle etwas. Wie wenn wir plötzlich etwas Vertrautes vermissen, etwas, das durch häufigen Gebrauch oder Gewöhnung an unseren Sinnen haftet und nicht mehr bis in unser Bewußtsein dringt. Aber seine Abwesenheit erzeugt eine gewisse Leere, ein Unbehagen in uns, wie das ärgerliche Verlöschen eines Lichtes. Bis uns das, was wir vermissen, plötzlich wieder bewußt wird.
»Irgendwas fehlt hier«, sagte der Maresciallo zum Carabiniere Sposito, der als geprüfter Buchhalter die Stütze der Carabinieri-Dienststelle von S. war. »Irgendwas oder irgendwer fehlt.«
»Der Ölkuchenverkäufer«, sagte der Carabiniere Sposito.
»Herrgott, der Ölkuchenverkäufer!« rief der Maresciallo aus und dachte über die Schulen seines Landes: Das Buchhalterdiplom bekommt dort wirklich nicht jeder Hergelaufene.
Ein Carabiniere wurde losgeschickt, sich den Ölkuchenverkäufer zu schnappen. Er wußte, wo er zu finden war. Denn gewöhnlich ging er nach der Abfahrt des ersten Autobusses seine heißen Ölkuchen im Hof der Volksschule verkaufen.
Zehn Minuten später hatte der Maresciallo den Ölkuchenverkäufer vor sich. Das Gesicht eines Ahnungslosen, den man aus tiefstem Schlaf geschreckt hat.
»War der hier?« fragte der Maresciallo den Schaffner und zeigte auf den Ölkuchenverkäufer.
»Der war hier«, sagte der Schaffner und schaute auf seine Schuhe.
»Also«, sagte der Maresciallo mit väterlicher Milde, »du bist heute morgen wie gewöhnlich hiergewesen, um Ölkuchen zu verkaufen. Am ersten Autobus nach Palermo, wie gewöhnlich …«
»Ich habe einen Gewerbeschein«, sagte der Ölkuchenverkäufer.
»Ich weiß«, sagte der Maresciallo und sandte einen geduldheischenden Blick zum Himmel empor. »Ich weiß. Und dein Gewerbeschein interessiert mich nicht. Ich will nur eins von dir wissen. Wenn du mir das sagst, laß ich dich gleich laufen, damit du den Kindern Ölkuchen verkaufen kannst. Wer hat geschossen?«
»Wieso?« fragte der Ölkuchenverkäufer erstaunt und neugierig. »Ist denn geschossen worden?«
»Ja, um sechs Uhr dreißig. Von der Ecke Via Cavour aus. Zwei Schüsse aus einem kurzen Jagdgewehr, zwölfkalibrig oder mit abgesägten Läufen. Von den Leuten im Autobus hat niemand was gesehen. Eine Hundearbeit, herauszubekommen, wer im Autobus war. Bis ich kam, hatten sie sich schon verdrückt … Einer, der Ölkuchen verkauft, erinnerte sich, aber erst nach zwei Stunden, an der Ecke Via Cavour/Piazza Garibaldi habe er so etwas wie einen Kohlensack gesehen. Soll an der Kirchenecke gelehnt haben. Von diesem Kohlensack sind zwei Lichtblitze ausgegangen, sagt er. Und er hat der heiligen Fara einen Scheffel Kichererbsen versprochen. Denn es ist ein Wunder, sagt er, daß er nicht getroffen worden ist, so dicht, wie er neben dem Ziel stand … Der Schaffner hat nicht einmal den Kohlensack gesehen … Die Fahrgäste, die rechts saßen, sagen, die Fensterscheiben seien trübe wie Milchglas gewesen, so beschlagen waren sie. Und vielleicht stimmt das sogar … Ja, Vorsitzender einer Baugenossenschaft. Einer kleinen Genossenschaft. Anscheinend hat sie nie größere Aufträge übernommen, höchstens bis zu zwanzig Millionen. Kleine Projekte in Arbeitersiedlungen, Kanalisationsarbeiten, Straßen im Ort … Salvatore Colasberna. Co-la-sber-na. Maurer von Beruf. Die Genossenschaft hat er vor zehn Jahren zusammen mit zwei Brüdern und vier oder fünf anderen Maurern aus dem Dorf gegründet. Der eigentliche Direktor war ein Landmesser, aber er selbst beaufsichtigte die Arbeiten und kümmerte sich um die Verwaltung … Das Geschäft ging so lala. Er und die anderen begnügten sich mit kleinen Gewinnen, als wären sie Lohnarbeiter … Nein, offenbar gehören ihre Bauten nicht zu der Sorte, die beim ersten Regen auseinanderfällt … Ich habe ein funkelnagelneues Bauernhaus gesehen, das wie ein Kartenhaus zusammenfiel, weil eine Kuh sich daran scheuerte … Nein, die Firma Smiroldo, ein großes Bauunternehmen, hatte es gebaut. Ein Bauernhaus, das von einer Kuh umgeworfen wird … Colasberna, habe ich mir sagen lassen, hat solide gearbeitet. Hier ist doch die Via Madonna di Fatima. Die hat seine Genossenschaft gebaut. Trotz all dem Autoverkehr hat sie sich noch keinen Zentimeter gesenkt. Dabei bauen größere Firmen Straßen, die nach einem Jahr aussehen wie die Kamelhöcker … Ja, Vorstrafen hatte er. Neunzehnhundertvierz … Hier, vierzig. Am dritten November vierzig … Er fuhr mit dem Autobus. Autobusse scheinen ja sein Verhängnis gewesen zu sein. Es wurde über den Krieg gesprochen, den wir in Griechenland angefangen hatten. Jemand sagte: ›Die zwingen wir in vierzehn Tagen in die Knie.‹ Er meinte Griechenland. Colasberna sagte: ›Sprichst du von Turnübungen?‹ Im Autobus war einer von der Miliz, der zeigte ihn an … Wie? … Entschuldigen Sie, Sie haben mich gefragt, ob er Vorstrafen hatte. Und ich antworte an Hand seiner Papiere: Ja, er hatte welche … Schön. Er hatte also keine Vorstrafen … Ich, Faschist? Wo ich mich bekreuzige, wenn ich das Rutenbündel